Li Wenchao, Leibniz Universität Hannover

Von dem Unbehagen, über eine chinesische Philosophie zu sprechen

Angesichts europäischer Herausforderungen spätestens seit dem 17. Jahrhundert wurde das traditionelle chinesische Wissensverständnis in Frage gestellt, aus sicheren Wissensbeständen wurden Fragmente. Um der drohenden Traditionserosion beizukommen, versuchte man, diese Fragmente in die weitgehend europäisch geprägte Wissensklassifikation und somit in eine neue Ordnung zu integrieren. Der Vortrag versucht anhand des chinesisch verstandenen Philosophie-Begriffs eine Skizzierung einiger wenigen Momente dieses langwierigen Prozesses, unter anderem, um die noch gegenwärtig spürbaren Konsequenzen für das sino-europäische Verständnis aufzuspüren. Die Grundgedanken dabei lauten:

– Der Siegeszug der europäischen Moderne hat die traditionelle chinesische Wissensordnung nachhaltig in Frage gestellt, somit auch das dieser Wissensordnung zugrunde liegende Wissensverständnis und die mit ihr verbundenen und durch sie zum Ausdruck gebrachten chinesischen Weltbilder.
– Fragmentierung des Traditionellen und dessen darauf folgende Reorganisation durch Integration sind zwei wichtige Momente, ohne die zu berücksichtigen, die Entwicklung Chinas in die Moderne in den letzten 300 Jahren nur schwer zu verstehen wäre.

– Dass die Transmission europäischer Wissenschaften dabei immer auch eine Projektion europäischer Kategorien auf China darstellt, ist indessen ebenso unvermeidlich wie fruchtbar, bringt diese Projektion doch nicht nur neue Umstellungen und Umdeutungen traditioneller Wissensbestände hervor: erst durch sie wird ein differenzierter interkulturell zu führender Diskurs ermöglicht. Umso mehr gilt es nun aber, im Diskurs das kategorial Unfassbare und das Nichterfasste nicht zu vergessen.

– Neuerlich ist in China ein wieder energisch unternommener und teilweise unter staatlicher Vorgabe, daher nicht ganz ideologie- und herrschaftsfreie Versuch zu beobachten, die Stellung der Klassiker zu stärken und das (vermeintlich?) Chinesisch-Traditionelle unter dem Namen „Guoxue“ (Nationalstudien) als Forschungs-, Studien- oder gar Promotionsfach einzuführen, um es so bereits kategorial gegen die Moderne abzugrenzen, in Anschluss an die zeitlich unterbrochene Kampagne der sogenannten Ordnung nationaler elitärer Kulturgüter (zheng li guogu) zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts. Inwieweit diese Beschwörung auf alte, sprich traditionelle Weltbilder und Deutungsmächte über die Ideologie hinaus für die Entwicklung China fruchtbar sein und sie beeinflussen wird, muss noch mit Spannung abgewartet werden. Eine Fortsetzung der seit nunmehr 300 Jahren andauernden chinesischen Selbstfindung und Selbstvergewisserung ist sie allemal.

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