Auf der Suche nach der verlorenen geistigen Heimat
Erklärungsversuch des „Enthusiasmus für Traditionsforschung“ (guoxue re)
Der „Enthusiasmus für Traditionsforschung“ (guoxue re) ist ein Phänomen, das im vergangenen Jahrzehnt von einer Reihe chinesischer Intellektueller innerhalb Chinas und im Ausland heftig diskutiert wurde, mit dem Ziel, die traditionelle chinesische Kultur zu erforschen und wiederzubeleben. Im Zuge dieser Debatten wurde unter anderem hinterfragt, was der Inhalt der „vaterländischen Studien“ sei, ob der Begriff gerechtfertigt sei, wie das Verhältnis von „vaterländischen Studien“ und fremden Kulturen sei und ob es überhaupt Sinn mache, „vaterländische Studien“ im aktuellen Kontext der Globalisierung aufzugreifen. In diesen weitreichenden Debatten traten zwei unterschiedliche Einstellungen unter den Intellektuellen zutage: die Position des Kulturkonservatismus und die des Kulturnihilismus.
Mein Beitrag analysiert schwerpunktmäßig die Ursachen für die Entwicklung des „Enthusiasmus für vaterländische Studien“ in folgenden drei Hauptthesen:
(1) China ist einerseits ein großes Land mit einer langen Tradition und einer tiefgründigen Kultur, andererseits aber ein extrem säkulares Land, das zu keinem Zeitpunkt eine transzendente Religion hervorgebracht hat. Seit Jahrtausenden ist das chinesische Geistesleben streng mit dem Konfuzianismus verbunden, dem so genannten rujiao, in dem Himmels- und Ahnenkulte gepflegt und die ethische Ordnung der Familie und der Gesellschaft betont werden.
(2) Mit Beginn der Neuzeit und dem Eindringen der starken westlichen Zivilisation ist die chinesische kulturelle Tradition unterbrochen worden, so dass Chinesen ihre traditionelle geistige Heimat verloren habe. Dies hängt insbesondere damit zusammen, dass im letzten Jahrhundert die traditionelle Kultur, die vom Konfuzianismus repräsentiert wird, stark kritisiert und ruiniert wurde.
(3) In den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts kam der Neu-Konfuzianismus auf, der im chinesischen Geistesleben als eine Art Placebo funktionierte bzw. neue Erwartungen weckte. In der heutigen Situation, in der der chinesische Staat an Stärke und Wirkung gewonnen hat, knüpfen viele Intellektuelle an ihn die Erwartung, die verlorene geistige Heimat wieder zu gewinnen, oder gar die Hoffnung, die „Sicht auf asiatische Werte“ freizulegen. Obwohl Tendenzen zum kulturellen Konservatismus und zum Nationalismus im engeren Sinne als die Triebkräfte der Debatten zu beobachten sind, ist gleichzeitig auch das emsige Bestreben chinesischer Intellektueller zu sehen, Hoffnungen auf nationale Gefühle zu setzen und zwar in dem Versuch, die verlorene geistige Heimat zurückzuerlangen. Deshalb sollten wir uns gegenüber diesem Phänomen nicht verneinend und ablehnend verhalten, sondern es vielmehr einer tiefgreifenden theoretischen Analyse unterziehen.
In meinem Beitrag vertrete ich die Ansicht, dass in der globalen Gesellschaft verschiedene Zivilisationssysteme koexistieren, die jeweils ihre eigene Struktur und Eigenart besitzen. Da aber zwischen den verschiedenen Systemen Austausch und Verschmelzung unverzichtbar sind, muss es ein universales System der Weltzivilisation geben. Jedes Zivilisationssystem hat sein eigenes Regelwerk und besteht für eine gewisse Periode. Im Verlauf der Geschichte gibt es für jedes Zivilisationssystem Zeiten, in denen es besonders hervortritt bzw. in den Hintergrund tritt, mal mehr und mal weniger wirksam ist. Es gibt also keine absolute Regel für diese Veränderungen. Deshalb geht es um das Verhältnis der Vereinigung der Gegensätze zwischen den beiden Polen der Einheitskultur eines Volkes und der Vielfältigkeit der Weltkulturen, zwischen denen zugleich Konflikte und Bereicherungsmöglichkeiten bestehen.
Nur wenn der „Enthusiasmus für vaterländische Studien“ im heutigen China aus einer dialektischen Perspektive betrachtet und analysiert wird, wird man der Einstellung des Kulturkritizismus der traditionellen Kultur gerecht werden können. Denn eine Kritik in diesem Sinne ist keine einfache Zurückweisung, sondern (1) ein durch vernünftige Analysen erlangtes Urteil; (2) eine „Aufhebung“, d.h. die kritische Fortsetzung der kulturellen Tradition statt einer bloßen „Rückkehr zum Alten“; (3) die Weiterentwicklung der kulturellen Tradition mit dem Ziel, sie den Bedürfnissen der Zeit anzupassen, um so einen Beitrag zu leisten zum kontinuierlichen Fortschreiten der Menschheitszivilisation.