Der Preis der Harmonie
In welche Zukunft ist China unterwegs? […] Woher nimmt China seine Orientierung, wie legitimiert sich die ordnende Staatsgewalt? Um das zu beantworten, ist es notwendig, den traditionellen Umgang mit Geistern und Göttern in China zu betrachten und das Staatskultwesen zu untersuchen. Eine wichtige Rolle hatte dabei seit seiner Einführung vor zweitausend Jahren der Buddhismus gespielt, der dann auch bei der Integration des Reiches immer wieder wichtig war und der seither in einem oft spannungsvollen, gelegentlich aber auch partnerschaftlichen Verhältnis zum Daoismus stand. Die integrative Rolle des Buddhismus funktionierte noch bis in die späte Kaiserzeit, als Chinas Kaiser den mongolischen und tibetischen Völkern als Bodhisattva präsentiert wurde. Tibet, das „Dach der Welt“, war so zu einem Teil des Himmels für China geworden, dessen Reichsidee, dessen Vorstellung von einer Ökumene mit dem Begriff „was unter dem Himmel ist“ (tianxia) verbunden ist.
Mit dem Anbruch der Moderne scheint dieser Himmel nun zu zerbrechen, das Reich droht sich aufzuspalten, – und das ist nicht nur die Forderung der Mehrheit der Exiltibeter und ihrer Unterstützer, sondern auch manche Chinesen, insbesondere im Exil, beschwören seit Jahren einen solchen Zusammenbruch Chinas. Dabei kann man es geradezu als tragisch bezeichnen, daß China, das nach den Schocks und Bedrohungen durch die europäischen Mächte und nach einer langen Traumatisierung und ersten Versuchen, einen eigenen Weg in die Moderne zu finden, sich seit hundert Jahren, wenn man einmal von der Zeit der Kulturrevolution absieht, gänzlich den westlichen Entwicklungszielen verschrieben hat, und dennoch nunmehr vom Westen, von Europa vor allem zurechtgewiesen wird. China hat sich um Nationsbildung, um Souveränität und seit den 70er Jahren um eine Integration in die Völkergemeinschaft bemüht und den sozialen und wirtschaftlichen Aufbau vorangetrieben, und nun, da es einen geringen Wohlstand vorzuweisen hat, sieht es sich unter Hinweis auf die Einhaltung der Menschenrechte an den Pranger gestellt und in diesem Zusammenhang erneut zur Aufgabe seiner territorialen Integrität gedrängt. Doch die Mehrheit der Völker setzt auf die Hoffnung, daß ein sich entwickelndes prosperierendes China eine starke Stütze wäre auf dem Weg der Menschheit zu einer besseren Zukunft. Um die durch die Entwicklungsdynamik entstehenden Spannungen auszuhalten und dem ergebnisoffenen Prozeß weite Spielräume zu geben, ohne eine Implosion des Systems gewärtigen zu müssen, ist der durch einen starken Staat vorgegebene Rahmen allein nicht ausreichend. Es tritt der Appell an Sinnstrukturen jenseits von materiellem Wohlstand und Verteilungsgerechtigkeit hinzu.