Rainer Enskat, Martin Luther Universität Halle-Wittenberg

Politik ohne Religion?

Wenn man in Rahmen einer deutsch-chinesischen Konferenz zum Thema Philosophie und Religion fragt, ob Politik ohne Religion möglich oder nötig ist oder aber nicht, dann bieten sich für die Philosophie zwei Grundkonzeptionen an, die ganz besonders geeignet sind, eine fruchtbare Kontroverse zu fördern.

Auf der einen Seite hat man es mit der Konzeption der politischen Tugenden zu tun, die sich in den Gesprächen des Konfuzius abzeichnet. Diese Konzeption thematisiert sowohl die Tugenden des Herrschers wie die Tugenden der Beherrschten, ohne in irgendeiner Religion, also ohne in irgendeinem Gottes- oder Götterglauben eine Bedingung der Politik zu sehen. Die Pflege des Konfuzianismus scheint nicht zuletzt wegen dieser politischen Brennpunkte dieses Denkens von der gegenwärtigen chinesischen Regierung gefördert zu werden.

Auf der anderen Seite hat man es mit der Konzeption der sog. bürgerlichen Religion zu tun. Sie ist bekanntlich zum ersten Mal von Jean-Jacques Rousseau in seinem Traktat Vom Gesellschaftsvertrag (1762) auf diesen Namen (religion civile) getauft worden. In dieser Konzeption gehört die Religiosität primär zu den Tugenden des Bürgers. Der älteste klassische Philosoph des Westens, der eine bürgerliche Religion konzipiert hat, ist. Platon. In seiner Philosophie ist die Religiosität eine politische Tugend sowohl des Bürgers wie des Politikers. Der jüngste klassische Philosoph des Westens, der eine bürgerliche Religion konzipiert hat, ist Kant. Auch in seiner Konzeption ist die Religiosität eine politische Tugend primär des Bürgers. Gleichwohl bricht Kant in unveröffentlichten Schriften seines Alters-werks in geradezu radikaler Form mit den traditionellen Konzeptionen einer bürgerlichen Religion. Denn die von ihm hier konzipierte Religion ist eine Religion ohne den Glauben an die Existenz eines Gottes oder von Göttern.

Mit seiner Konzeption einer gottlosen politischen Tugend der Religiosität ist Kant einerseits der konfuzianischen Konzeption einer gottlosen politischen Tugend verwandt. Andererseits sieht Kant die gottlose politische Religiosität von Bedingungen abhängen, die von der konfuzianischen Konzeption gar nicht berücksichtigt werden. Es sind dies Bedingungen, wie sie der deutsche Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde im Auge hat, wenn er davon spricht, dass der Staat von Bedingungen abhängt, die er selbst nicht geschaffen hat.

Im Vortrag sollen die Kriterien erörtert werden, die die Autoren präsentieren, um die relativen Tragfähigkeiten ihrer Konzeptionen zu prüfen.

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