Violetta Waibel, Universität Wien

Kunstreligion?

Kunst und Religion sind seit jeher verschwistert. Freilich ist unverkennbar, daß sich die Kunst in der Neuzeit säkularisiert hat und nicht mehr notwendig an Religion geknüpft blieb. Mit dem zunehmenden Rückgang der Omnipräsenz der kirchlich organisierten Religionen im deutschsprachigen Europa in den letzten Jahrzehnten sind Stimmen laut geworden, die in der Kunst selbst eine Art Religionsausübung, eine Kunstreligion erkennen wollen. Kunstreligion ist ein Terminus, den Hegel in der Phänomenologie des Geistes von 1807 prägend bestimmt und zur Geltung gebracht hat mit Blick vor allem auf die griechische Antike und ihre Mysterienspielen, die über das Homerische Epos der Ilias schließlich die antike griechische Tragödie hervorgehen ließen. Verknüpft mit der These vom Ende der Kunst hat nach Hegel die Kunstreligion heute keine, oder wenigstens keine umfassende Geltung. Doch Nietzsche lässt in seiner Schrift von 1872/1886 über Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik im Hinblicken auf die großen Musikdramen Richard Wagners neben dem Kunsttrieb des apollinischen Scheins der sokratischen Neuzeit den antagonistischen dionysischen Trieb des Rausches wiedererstehen. Der in Wien geborene und in Frankfurt lehrende Aktionskünstler Hermann Nitsch ist der Zeitzeuge der Gegenwart, der in radikaler Konsequenz an die antiken Dionysien, Mysterien und Tragödienspiele anschließt, in der Auseinandersetzung mit Freud Grundzüge der christlichen Religion überformend aufnimmt und so die Kunst zu einer neuen Religion erklärt hat. Dies ist freilich eine Kunstreligion, die, verglichen mit der abendländischen Religionstradition, nur mehr partiale Geltung beanspruchen kann. Der vorliegende Beitrag will diese Entwicklung nachzeichnen und nach ihrer Bewertung fragen.

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