Konfuzianismus und Religion
Die Zhou-Zeit (11.-3. Jh.v.Chr.) ist Schauplatz eines dramatischen Umbruchs der sozialen und politischen Strukturen und einer tiefen Krise der tradierten Weltsicht Chinas. Dies betrifft auch die Religion des „Himmels“ mit ihrem Glauben an eine nach moralischen Maßstäben belohnende und strafende göttliche Instanz. Sie gerät in Konkurrenz zu neuen Perspektiven auf die Welt und erfährt folgenreiche Umdeutungen. Im Konfuzianismus lassen sich hierbei zwei Tendenzen voneinander unterscheiden, die sich als Säkularisierungen der Religion lesen lassen: Zum einen wird der „Himmel“ aus der Ethik herausgenommen und zum blinden Naturprozess herabgesetzt, den der Mensch sich für seine eigenen Zwecke nutzbar macht. Die Moral wird dann zur menschlichen Erfindung. Zum andern wird das „Mandat“ des Himmels in die menschliche „Natur“ hineingenommen, die damit zu einer internen Quelle der Moral wird. Mit diesem Schritt zu einer anthropologisch fundierten „inneren Transzendenz“ scheint die Möglichkeit einer politischen Radikalisierung des frühen Konfuzianismus verbunden zu sein, die sich etwa in den heftigen Attacken Mengzis (ca. 370-290) auf die Herrschaft seiner Zeit äußert.
Es ist bemerkenswert, dass der gleiche Zusammenhang in Christian Wolffs (1679-1754) Interpretation der „sinarum philosophia practica“ hergestellt wird: Das „Gesetz der Natur“, so Wolff unter Bezug auf den Konfuzianismus, ist dem Menschen „ins Herz geschrieben“, und hiermit treten „interne“ Beweggründe an die Stelle der äußeren Autorität. Eine der entscheidenden Denkfiguren der Aufklärung und Weichenstellungen zum „säkularen Zeitalter“, die „Entdeckung der innermenschlichen Quellen des Wohlwollens“ (Ch. Taylor), wäre somit in der konfuzianischen Ethik vorgeprägt. Ihre Wirkungsgeschichte in Europa wirft ein Licht auf ihre mögliche Rolle in einer chinesischen Moderne.